

Kapitel 1: Der erste Schnee und ein leiser Wunsch
Lina wachte an einem Samstagmorgen auf und merkte sofort, dass etwas anders war.
Es war so still im Haus.
Keine Autos, die draußen fuhren.
Kein Tropfenregen gegen die Scheiben.
Nur eine helle, ruhige Stille.
Lina setzte sich im Bett auf und blinzelte.
Ihr Herz klopfte ein bisschen schneller, so wie immer, wenn sie hoffte, dass etwas Schönes passiert war.
Sie sprang aus dem Bett, tappte barfuß zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite.
Draußen war alles weiß.
Die Dächer waren weiß.
Die Bäume waren weiß.
Sogar der kleine Zaun im Garten sah aus, als hätte jemand Puderzucker darüber gestreut.
Lina hielt vor Staunen die Luft an.
„Schnee“, flüsterte sie.
Ganz leise.
Fast so, als könnte sie den Zauber sonst erschrecken.
In diesem Moment huschte etwas Orangenes am unteren Rand des Fensters vorbei.
Lina runzelte die Stirn.
Sie drückte ihre Nase an die kalte Scheibe.
Unten im Garten saß ein kleiner Fuchs im Schnee.
Sein Fell war flauschig und warmorange.
Die Schwanzspitze war weiß, und in seinen dunklen Augen funkelte es neugierig.
Der Fuchs schaute direkt zu Linas Fenster hoch.
Lina erschrak, aber nur ganz kurz.
Dann musste sie lächeln.
„Guten Morgen“, flüsterte sie.
Der Fuchs legte den Kopf schief, als würde er zuhören.
Dann schüttelte er sich, dass der Schnee nur so stob, und tappte langsam zum Gartentor.
Lina wollte gerade nach unten rennen, da klopfte es an ihrer Zimmertür.
„Lina, bist du schon wach?“, rief Mama.
„Der erste Schnee ist da.“
Lina kicherte.
„Ich weiß es schon“, rief sie zurück.
„Ich hab ihn gesehen.“
Mama öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer.
Ihr dunkler Zopf war noch ein bisschen zerzaust, und sie trug den kuscheligen Morgenmantel mit den Sternen.
„Na du Frühaufsteherin“, sagte sie.
„Kommst du mit frühstücken? Es gibt Winterkakao.“
Winterkakao war der beste.
Mit einer kleinen Prise Zimt und einem Klecks Sahne.
„Ich komme sofort“, sagte Lina.
Sie sah noch einmal nach draußen.
Der kleine Fuchs war verschwunden.
Nur feine Pfotenspuren führten zum Gartentor.
Auf dem Weg in die Küche dachte Lina an Weihnachten.
Der erste Schnee fühlte sich an wie eine kleine Tür, die sich öffnete.
Eine Tür in die Weihnachtszeit.
In die Zeit, in der Lichter in Fenstern leuchten.
In der es nach Plätzchen duftet.
Und in der man hofft, dass besinnliche Dinge passieren.
Am Küchentisch stand schon eine Kerze.
Noch kein Adventskranz, dafür war es ein bisschen früh.
Aber eine einzelne rote Kerze, mitten auf dem Tisch.
Mama zündete sie an.
Die Flamme zitterte kurz und brannte dann ruhig.
„Ich liebe das“, sagte Mama.
„Wenn es draußen kalt ist und wir drinnen warm sitzen.“
Lina nahm den Becher mit dem Winterkakao zwischen die Hände.
Der Rand war warm, und der Duft kitzelte in der Nase.
„Mama“, fragte sie nach einer Weile.
„Kommt der Weihnachtsmann eigentlich zu allen Kindern?“
Mama dachte kurz nach.
Ihre Augen bekamen diesen besonderen Blick, den sie hatte, wenn sie etwas Wichtiges erklären wollte.
„Der Weihnachtsmann“, begann sie langsam.
„Kommt in vielen Geschichten zu den Kindern.“
„Manchmal durch den Kamin.“
„Manchmal durch die Tür.“
„Manchmal auch nur in ihren Herzen.“
Lina runzelte die Stirn.
„In ihren Herzen?“
Mama nickte.
„Weißt du, eigentlich ist Weihnachten viel mehr als nur Geschenke.“
„Es ist die Zeit, in der wir uns daran erinnern, wie gut es tut, wenn wir füreinander da sind.“
„Manche Kinder bekommen viele Geschenke.“
„Manche nur ein kleines.“
„Und manche vielleicht gar keins.“
„Aber alle können Weihnachten fühlen, wenn jemand an sie denkt, sie besucht, mit ihnen lacht oder ihnen hilft.“
Lina schwieg eine Weile.
Sie dachte an den kleinen Fuchs im Garten.
An seine Pfotenspuren im Schnee.
„Also ist Weihnachten ein Gefühl?“, fragte sie schließlich.
Mama lächelte.
„Ja“, sagte sie leise.
„Weihnachten ist ein Gefühl.“
„Ein Gefühl von Wärme, obwohl es draußen kalt ist.“
„Von Hoffnung, obwohl manches schwer ist.“
„Und von Liebe, obwohl man sie nicht in Geschenkpapier einwickeln kann.“
Lina nickte langsam.
Sie nahm einen großen Schluck Kakao.
Er war süß und warm und ein bisschen schaumig.
„Dann möchte ich“, sagte sie nachdenklich.
„Dass dieses Jahr alle ein bisschen Weihnachten fühlen können.“
Mama sah sie erstaunt an.
„Das ist ein sehr großer Wunsch“, sagte sie weich.
„Vielleicht der schönste von allen.“
Lina seufzte.
„Dann wünsche ich ihn mir.“
„Ganz fest.“
„Vielleicht hört der Weihnachtsmann ja auch auf solche Wünsche.“
Im Garten fiel leise weiter der Schnee.
Auf der Hecke, ganz hinten, saß der kleine Fuchs.
Sein Schwanz war um seine Pfoten geschlungen.
Er blinzelte neugierig zum Haus.
So als würde auch er zuhören, wie Linas Wunsch in den Morgen hineinwuchs.

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